Oma erzählt
Ich, Margarete Athenhöfer, wurde am 22.Juli 1910 in Berlin geboren. Meine Eltern waren Hermann und Berta Dettmann. Ich hatte noch eine Schwester, Elli. Sie war 1 Jahr und 3 Monate älter als ich.
Wir wohnten in der Kaiser-Friedrich-Strasse in Berlin-Pankow in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Elli und ich schliefen zusammen mit unseren Eltern in einem Zimmer.
Nicht weit von dem Wohnhaus war ein ganz großer, schöner Park mit hohen Bäumen. Dort haben uns die Eltern im Kinderwagen spazieren gefahren.
Als kleines Kind konnte ich kein „k“ aussprechen. Es gab fast jeden Tag Kohlrüben zum Mittagessen und ich fragte meine Mutter:“ Tochst Du wieder Tohlrüben?“ Diesen Satz werde ich nicht mehr los!
Mein Vater war im Krieg und Mutter mußte arbeiten. Elli und ich gingen in die Schule. Mutti machte uns noch am Abend Butterbrote fertig. Meine Schwester nahm immer unauffällig die Wurst von meinen Broten und vernaschte sie. Sie aß schon immer mehr als ich.
Als ich vier Jahre alt war, ging mein Vater in den Krieg. Daher habe ich ihn ganz schlecht gekannt. Eines Tages, nach dem Krieg 1918, mußte meine Mutter Wäsche waschen. Sie ging in den Keller und verbot uns, jemanden die Tür aufzumachen. Eine Weile später kam ein Mann und klopfte an die Tür. Da wir nicht wussten, dass es unser Vater war, haben wir nicht aufgemacht und ihn in den Keller geschickt. Im Keller hat ihn Mutter gewaschen und zog ihm saubere Sachen an. Dann kam sie mit ihm nach oben und stellte ihn uns vor.
Im Jahre 1924 habe ich die 8. Klasse beendet und meine Konfirmation gehabt. In dieser Zeit herrschte sehr große Arbeitslosigkeit. Es war kaum möglich, eine Lehrstelle zu finden. Aber ich fand eine, als Lageristin in einem Bekleidungsgeschäft bei einem sehr netten Juden, er hieß Abraham.
Dieser hatte einen Sohn, der geistig behindert war. Der Sohn mochte mich sehr, weil ich nett zu ihm war. Deswegen veräppelten mich die Kolleginnen. Ich hatte noch 1970 Kontakt zu meinen Kolleginnen.
Schwester Elli hatte einen Freund. Er hieß Paul. Durch ihn lernte ich meinen Mann Konrad kennen. Er war Torwart in der gleichen Fußballmannschaft wie Paul. Nach 3 Jahren verlobten wir uns, konnten aber nicht heiraten. Mein Konrad war damals arbeitslos, hatte Magengeschwüre und wurde operiert. Dann kam noch die Inflation dazu, durch die alle Ersparnisse verloren gingen.
Nach vier Jahren bekam ich meine Aussteuer; wir konnten endlich am 13.10. 1934 heiraten. Aber nur standesamtlich, weil mein Mann katholisch und ich evangelisch war.
Wir wohnten mit meiner Schwiegermutter in einem Zimmer. Mein Mann unterstützte finanziell seine Mutter, weil sein Vater schon früh verstorben war.
1936 wurde ich schwanger. Wir mussten Berlin verlassen, weil mein Mann ein paar negative Äußerungen gegen Hittler in Gegenwart eines Bekannten gemacht hatte, nachdem er das Buch „Mein Kampf“ gelesen hatte. Einer dieser Bekannten hatte ihn verraten. Mein Mann wurde gleich verhaftet. Er stritt alles ab, weil ich schwanger war. Er wurde entlassen unter der Bedingung, daß wir Berlin verlassen. So sind wir nach Köln gezogen. Wir bewohnten eine Dreizimmerwohnung. Ich fühlte mich dort nie wohl, weil ich die Kölner nicht mochte.
Am 3.März 1937 kam mein 1. Kind (in Berlin Anm.) zur Welt. Davor hatte ich panische Angst, weil ich nie aufgeklärt wurde. Ich wußte nicht, wie das Kind rauskommen wird. Der Arzt sagte zu mir:“ Das Kind kommt da heraus, wo es auch rein gekommen ist!“ Ich bekam einen Sohn und nannte ihn Norbert. Er hatte als Baby alle Kinderkrankheiten, die man nur haben konnte.
1939 brach der 2. Weltkrieg aus. 1940 wurde ich an der Nase operiert. In dem Krankenhaus war auch eine Scharlachstation. Der Arzt, der bei mir die Operation durchführte, infizierte mich mit toxischen Scharlach. Es war eine sehr schlimme Krankheit. Ich lag ein paar Monate im Krankenhaus.
Nach der Krankheit hatte ich eine Scheinschwangerschaft. Mein Bauch wuchs, die Monatsregeln fielen aus, die Ärzte hörten Herztöne. Bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat bekamen wir sogar Zuteilungsmarken für Brot und Essen. Davon hat mein Sohn profitiert. Nach dem 6. Monat wurde ich wieder dünner. Dann stellten die Ärzte fest, dass ich ein gutartiges Gewächs im Bauch hatte, das alles verursacht hatte. Die Schwellung ging weg und die Zuteilungsmarken auch.
Mein Mann arbeitete auf einer Reichsstelle für Öl und Fette (in Berlin, in Köln im Fleisch- und Fettkonzern, Anm.) und brachte etwas Fett nach Hause, das er auf dem Schwarzmarkt gegen Essen und Zigaretten tauschte.
1940 + 41 mussten wir uns ständig im Keller vor den Bombeneinschlägen schützen. Mein Sohn hatte immer ein Köfferchen mit Anziehsachen, den trug er immer mit sich. Manches Mal schliefen wir angezogen, um bei einem Alarm sofort runter laufen zu können. Bei einem Bombenangriff suchte ich im Keller immer einen Pfeiler und versteckte mich mit meinem Sohn dort. Das hat uns das Leben gerettet. Es kam sehr oft vor, dass wir wegen zerstörter Fensterscheiben unsere Wohnung für ein paar Tage verlassen mussten. Wir wohnten dann bei einem Bekannten in Köln. Dort lernten wir eine Familie Hauer kennen.
Im September 1944 besuchte uns Herr Hauer und erzählte, dass seine Frau Jüdin sei. Sie hatten auch eine 13-jährige Tochter. Die ganze Familie sollte am nächsten Tag abgeholt werden. Mein Mann sagte: “Der Krieg ist bald zu Ende, kommt sofort mit der ganzen Familie zu uns!“ Gesagt getan. Herr Hauer, der arischer Abstammung war, konnte auf die Strasse gehen. Da sie keine Lebensmittelkarten bekamen, kaufte er alles auf dem Schwarzmarkt.
Immer wenn es bei uns klingelte, versteckte ich die Familie im Badezimmer. Es dauerte noch drei Wochen. Der Krieg ging doch nicht so schnell zu Ende. Herr Hauer mußte wieder nach Berlin, weil er dort beschäftigt war. (s.> Judenversteck, Mutige Eltern)
Am 9.Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Viele Brücken waren gesperrt. Ich war schwanger. Am 3.8.1945 setzten die Wehen ein. Wir waren im Auto in Köln. unterwegs. Im ersten Krankenhaus wurden wir abgewiesen. Im zweiten hat man mich untersucht und dort gelassen, denn sonst hätte ich mein Kind im Auto bekommen. So ist die Tochter Blanka am 3.8.45 zur Welt gekommen.
In dem gleichen Jahr hatte mein Mann die Idee, sich selbständig zu machen. Er hatte vorausschauend seine Ersparnisse in Schmuck angelegt. Das war das Startkapital für den Aufbau der Firma „Klausner“ (Einsiedler) in Volpriehausen im Solling. Es wurden Puddingpulver und Fertigsuppen hergestellt.
In der Anfangszeit, während mein Mann dort war, waren meine Kinder und ich in Köln geblieben. Mein Sohn ging dort zur Schule.
Mitte 1946 zog ich mit den Kindern in eine 2- Zimmer- Wohnung in Volpriehausen. Die Wohnung war für uns drei zu klein und die Vermieterin war immer unzufrieden. Deswegen gab ich meine Tochter für ein Jahr zu der Tante meines Mannes. Diese hatte eine 2-Zimmerwohnung in der Fabrikanlage.
1947 sind wir in eine 2-Zimmer-Wohnung am Bahnhof gezogen. In der Wohnung war kein Bad und die Toilette, eine halbe Etage tiefer, wurde von mehreren Personen benutzt.
Nach fast 4 Jahren, 1951, zogen wir auf das Fabrikgelände. Das nächste Dorf, wo wir einkaufen konnten, lag 3 Km. entfernt. Da ich keinen Führerschein hatte, fuhr ich mit einem Mitarbeiter, der die Post abholte, mit einem Firmenwagen in das Dorf um einzukaufen. Die Leute im Dorf haben mich ganz gut gekannt und wussten, dass ich es immer eilig hatte. Deswegen ließen sie mich auch häufig im Laden vor. Dann fuhr ich mit dem Mann wieder zurück.
In dem Haus auf dem Firmengelände hatten wir auch kein Bad. Wir erhitzten das Wasser in der Küche und schütteten es in eine Zinkwanne. Dann haben wir uns gewaschen und das Wasser in die Toilette ausgeschöpft.
Da wir weit weg vom Dorf wohnten, war ich von anderen Menschen isoliert. Der Umgang mit Anderen fehlte mir. Am 13.10.1959 feierten mein Mann und ich Silberhochzeit. Wir sind zum ersten Mal nach Italien gefahren.
1962 bauten wir ein Haus im Dorf und sind dort eingezogen. Ein Jahr später daneben noch eine neue Fabrik. Im gleichen Jahr ist meine Mutter verstorben.
1963 heiratete mein Sohn, im Jahr 1964 bekam ich die erste Enkelin, Pia.
Sie verunglückte mit ihrem Fahrrad 1977. Im Jahr 1966 starb mein Vater und mein Sohn bekam einen Sohn, Lars.
1968 heiratete meine Tochter Blanka und 4 Jahre später hat sie den ersten Sohn auf die Welt gebracht, zwei Jahre später den zweiten.
Am 13.Oktober 1974 feierten wir mit der ganzen Familie unseren 40-jährigen Hochzeitstag.
Am 20.4.1975 verstarb mein Mann um 16 Uhr mit 67 Jahren an Angina-Pektoris. Seitdem bin ich Witwe. Ich hatte ganz oft Besuch von den Kindern und von meiner Schwester Elli. So ging das Leben langsam weiter bis 1986.
Als ich 76 Jahre war, bin ich häufig gestürzt und habe mir die Hand gebrochen. Irgendwann wollte ich nicht mehr alleine in dem Haus in Volpriehausen bleiben.
Ich bin am 10.5.1987 in das Altenheim Hermannshagen (in Hann- Münden Anm.) gezogen. Im Heim nahm ich sehr rege am gemeinsamen Leben teil, wir spielten auch oft Skat.
Im Jahr 1995 bin ich so schwer gestürzt, dass ich im Rollstuhl sitzen muss. Ich lese sehr gerne und abends sehe ich Fern. Nicht eine einzige Minute bereue ich, dass ich in das Heim gegangen bin.
Mein Leben insgesamt, finde ich, war manches Mal ein bisschen schwer. Aber ich habe Spaß und Unterstützung von meiner Familie.
Karneval im Altenheim
(Unsere Mutter verstarb am 21.1.2004 und wurde in Volpriehausen neben Vater Konrad beerdigt)